Benjamins Schneemann

Lilith ThabitaEl

"Na, endlich wird das Wetter besser." sagte Vater beim Frühstück und blickte zufrieden von der Zeitung auf. "So konnte es ja nun auch wirklich nicht mehr ewig weitergehen!"
"Wird es wieder schneien?" fragte Ben hoffnungsvoll.
"Ach Unsinn! Es soll 17 Grad warm werden dieses Wochenende."
"Das ist ja schön. Dann hat das Schneefegen ein Ende." freute sich auch Mutter.

"Was ist denn mit dir los?" fragte die Mutter einige Minuten später, als Vater zur Arbeit gefahren war. "Du machst ja ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Freust du dich denn gar nicht auf den Frühling? Rodeln konntest du doch diesen Winter wirklich lange genug."
"Ach, das verstehst du nicht!" Ben ließ seine Mutter stehen und lief in den Garten hinaus.

Dort im Garten, ganz hinten in der Ecke hinter den Tannen, da stand er: Edgar, der Schneemann. Als der erste Schnee gefallen war, hatten sie ihn gebaut, Papa und er. Fast vier Wochen war das schon her. Papa hatte den Schneemann längst vergessen. - Aber nicht Ben. Jeden Morgen, bevor er zur Schule musste, lief er in den Garten und begrüßte Edgar. Und mittags, wenn er zurück kam, lief er zuerst zu ihm und erzählte ihm, was alles los gewesen war in der Schule. Edgar lächelte dann und gab seine Kommentare dazu ab. Wenn Ben Ärger gehabt hatte, tröstete er ihn. Und wenn etwas Lustiges passiert war, lachte er sich mit Ben darüber kaputt. Tag für Tag ...

Und nun sollte es warm werden. Edgar würde tauen! Schneemänner tauten, wenn der Frühling kam, Ben wusste das. Dann würde er seinen Freund verlieren. Niemand würde auf ihn warten, wenn er nach Hause kam. Und Edgar würde einfach weg sein, nie wieder zu ihm zurück kehren ...

"Was ist denn mit dir los, Benjamin?" fragte auch die Lehrerin in der Schule, denn Ben war gar nicht fröhlich, wie sonst, sondern saß nur still auf seinem Platz und sah vor sich nieder.

Aber er sagte nichts. Sie würden ihn auslachen. "Schneemänner reden nicht", würden sie sagen, "sie lachen nicht, und sie hören auch nicht zu. Schneemänner sind einfach nur Schneemänner." So würden sie sagen. Aber Ben wusste, dass das nicht stimmte.

Abends, nach dem Abendessen, als er schon "Gute Nacht" gesagt hatte und eigentlich auf seinem Zimmer sein sollte, da schlich er sich noch einmal hinaus. Es war schon ganz dunkel im Garten, aber Ben kannte sich ja aus. Er wusste ganz genau, wo Edgar stand und auf ihn wartete.

Er schlang beide Arme um den Schneemann und drückte seine Wange an die kalte Edgars: "Mach dir man keine Sorgen", tröstete er ihn. "Ich weiß, was wir machen. Pass gut auf, ich weiß, was wir tun werden."

Ben arbeitete lange, und als er endlich fertig war, stand der Mond schon hoch am Himmel, so hoch, wie er ihn noch nie gesehen hatte.

*

Ben phantasierte über eine Woche lang, er hatte hohes Fieber und wollte immerzu aufstehen und nach seinem Schneemann schauen. Immer wieder musste die Mutter ihm versichern, dass es Edgar gut ging und dass er ihn bestimmt bald wiedersehen würde.

Sie sagte ihrem Jungen nichts von dem Schrecken, den sie bekommen hatte, als sie die Tiefkühltruhe geöffnet hatte und der halb geschmolzene Schneemann ihr entgegen gegrinst hatte. Sie sagte auch nicht, dass sie lange gebraucht hatte, um die Tiefkühltruhe von den Wassermengen zu leeren.

Sie würde auch nicht mit Ben schimpfen. Denn wisst ihr, Ben war anders als andere Jungen. Er wusste nicht, dass Schneemänner nicht leben und nicht in Tiefkühltruhen wohnen den Sommer über. Er wusste viele Dinge nicht, die für dich und mich normal sind, obwohl er schon 19 Jahre alt war. Und Ben hatte in dem Schneemann Edgar einen Freund gewonnen, den er nicht verlieren wollte,

Deshalb sagte die Mutter ihm nichts von alle dem, auch nicht, als es ihm wieder besser ging und er wieder aufstehen durfte.

"Ich weiß, dass du deinen Schneemann in die Truhe getan hast", sagte sie nur. "Und bei Schneemännern ist es wie bei Bären - sie halten einem langen, langen Winterschlaf, und man darf sie nicht stören. Wir wollen ihn in Ruhe lassen. Wenn es im nächsten Jahr wieder schneit, dann wird er wieder aufwachen."

*

Und als es viele Monate später wieder schneite, da wartete Edgar draußen im Garten auf Ben, als der morgens aufstand und sah, wie über Nacht die Welt mit einem weißen Kleid überzogen worden war.

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