Der kleine Spatz und die Lerche

Martina Klusmeier

An einem wunderschönen Frühlingstag schlüpften der kleine Spatz und die kleine Lerche. Beide wohnten mit ihren Eltern und Geschwistern in einem Vogelnest in der großen Buchenhecke am Rande der Stadt. Beide sahen jeden Tag die gleichen Dinge ... und doch sahen sie sie ganz unterschiedlich.

"Schau nur, wie furchtbar ist alles!" pflegte der Spatz zu sagen. "Dieser Lärm von den Autos, dieser Dreck, diese Hektik ... diese vielen schrecklichen Häuser, und diese rauchenden, dreckigen Schornsteine! Es ist schrecklich, heute ein Spatz zu sein."

"Aber sieh doch mal, siehst Du denn die Kinder gar nicht, die dort auf der Wiese spielen?" fragte die kleine Lerche verwundert. "Schau doch, wie sie singen und sich freuen!"

"Wie können sie nur?" schimpfte der kleine Spatz weiter. "Man sollte sie warnen! Man sollte ihnen sagen, dass es ganz schrecklich ist auf der Welt!"

"Aber das stimmt doch gar nicht", wunderte sich die Lerche weiter, "siehst Du denn nicht den wunderbaren blauen Himmel? Schau nur, die Sonne scheint, die ganzen Knospen an den Bäumen. Es wird so schön sein, wenn sie alle zu Blättern geworden sind."

Aber der kleine Spatz wollte nichs davon hören. Er verbarg sein Köpfchen im Gefieder und wollte von der Welt nichts wissen.

Er sah nicht zu, wenn die Kinder spielten. Er konnte sie nicht singen hören, denn ihr Gesang drang nicht durch sein Gefieder bis zu ihm hindurch. Er konnte die Sonne nicht sehen, weil seine Augen vom Gefieder seines Flügels bedeckt waren. Er bemerkte das Wachstum der Blätter um ihn herum nicht, weil er sich in seinem Vogelnest zusammenduckte und die frischen, grünen Dinger ihn nicht berühren konnten. Er sah und hörte und spürte nichts, und er wurde immer trauriger, und griesgrämiger, und wütender auf die böse Welt, und unfreundlicher. Und schließlich war er ein Spatz, mit dem niemand mehr etwas zu tun haben wollte.

Die kleine Lerche war eine Zeitlang traurig, weil ihr Freund nichts von ihr wissen wollte, und von all den schönen Dingen um sie herum.

Und als einmal ein richtig regnerischer Tag war, der Sturm an den Blättern riss und fast das Nest aus der Hecke reißen wollte, da war sie drauf und dran, es ihm gleich zu tun ...

Aber dann riss sie sich zusammen. Sie spannte ihre Flügel, holte noch einmal tief Luft, dann stieg sie empor in den grauen Himmel. Sie sah die Welt unter sich, und ihr Herz wurde ganz weit vor Lebensfreude, sie öffnete den Schnabel und begann zu singen. Ihre helle Lerchenstimme klang weit über die Felder bei der kleinen Stadt, sie durchdrang das Rauschen des Regens. Die Lerche sang so wunderbar, dass die Lerchenfreunde sofort zu ihr hinauf flogen und in ihr Lied einstimmten ...

Und die Menschen unten auf dem Gehweg, mit ihren griesgrämigen Gesichtern unter dem Regenschirm, mit den tief in den Kragen gezogenen Köpfen ... die schlechtgelaunten Kinder in den Wohnzimmern, die nicht draußen spielen durften ... die ärgerlichen, gestressten Mütter am Badezimmerfenster, die schimpfend ihre Wäsche drinnen aufhängten ...

sie alle hörten den Gesang der jungen Lerchen, und sie alle reckten den Hals über das Wunder, das dort mitten an einem normalen, schrecklich scheußlichen Tag geschah. Und sie alle empfanden es plötzlich mit, die Lebensfreude der kleinen singenden Lerchen.

Der Spatz saß in seinem Nest, das Köpfchen unter den Flügeln. Er bekam von alledem nichts mit.

Sagt selbst: wer hat das bessere gewählt?

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