Das Elefantenbaby Milly

Martina Klusmeier

So oder ähnlich könnte die Geschichte von Milly in der Zeitung gestanden haben.

Milly ist ein Elefantenbaby in einem Zoo in England. Sie ist vor ein paar Monaten mit ihrer Mutter zusammen auf einem Schiff aus Afrika gekommen. Millys Mutter ist leider während der Überfahrt gestorben, und weil Milly noch so klein war, hat sie nach der Ankunft in England erst mal ein paar Wochen bei einem der Tierwärter des Zoos und seiner Frau gewohnt.

Sie haben Milly beigebracht, wie ein kleiner Elefant selbst isst und trinkt, und als Milly das gelernt hatte, wurde sie zu den anderen Elefanten in das große Elefantengehege gebracht. Der Zoowärter war sich sicher, dass alles gut gehen würde.

Er hatte nur an eine Sache nicht gedacht: Milly war ein afrikanischer Elefant, und alle anderen Elefanten in dem großen Gehege kamen aus Indien. Milly mit ihren großen Flatterohren sah anders aus als sie.

Erst schien auch alles zu funktionieren. Aber dann bemerkte Bill, der Zoowärter, dass das kleine Elefantenmädchen ganz traurig und niedergeschlagen wirkte. Sie stand nur still da, ging nicht zu den anderen Elefanten, und auch wenn das frische Futter gebracht wurde, kam Milly nicht. Bill beobachtete das genauer und stellte fest, dass die anderen Elefanten nichts mit Milly zu tun haben wollten. Sie drängten sie zur Seite, wenn sie in die Nähe kam, und sie ließen sie auch nicht an das Futter heran. Erst, wenn alle anderen zufrieden und satt waren, durfte Milly von den Resten nehmen.

So konnte es nicht weitergehen. Wenn Milly ganz allein blieb und keine Freunde fand, würde sie eingehen. Niemand kann ganz allein sein, auch Elefanten können das nicht.

Bill überlegte, ob er versuchen sollte, Milly ganz bei sich zu Hause aufzuziehen. Aber das war natürlich auch nicht möglich. Noch war sie ja klein, aber ein ausgewachsener Elefant im Garten? Nein, das ging wirklich nicht.

Bill und die anderen Leute im Zoo wussten nicht, was sie tun sollten. Und sie hätten auch nichts tun können. Sie überlegten schon, ob es nicht vielleicht einen anderen Zoo irgendwo gab, in dem afrikanische Elefanten lebten, die Milly vielleicht aufnehmen würden.

*

Aber dann löste sich das Problem doch noch von allein.

Eines Abends, als Milly wieder ganz allein am Rand des Geheges stand, stieß sie ein klägliches Geräusch aus. Trompeten konnte man das nicht nennen, der kleine Elefant war wahrscheinlich viel zu traurig, und zu müde, und zu hungrig, um richtig zu trompeten.

Die anderen Elefanten hörten es. Die meisten kümmerten sich nicht darum. Warum auch? Der kleine Elefant gehörte ja nicht zu ihnen, er hatte lange Schlabberohren.

Aber dann setzte sich ein anderes Elefantenmädchen in Bewegung, Sugar hieß sie. Sugar ging ganz langsam auf Milly zu, stubste sie mit dem Rüssel an - und dann ließ sie sich auf ihre Vorderbeine nieder, legte sich hin und drängte sich eng an Milly.

Die ganze Nacht lagen die beiden eng an einander gekuschelt im Heu, und am nächsten Tag, als das Futter kam, schob Sugar ihre neue Freundin vor sich her und sorgte dafür, dass Milly genau wie die anderen Jungelefanten zuerst fressen durfte.

Von dem Tag an gehörte Milly dazu - vielleicht, weil sie nach der Kuschelnacht mit Sugar genau so roch wie die anderen Elefanten. Elefanten denken nicht groß nach, es war bestimmt nicht deshalb, weil sie sich sagten: was Sugar kann, können wir auch. Es lag sicher an dem neuen Geruch.

Wisst ihr, als ich die Geschichte gehört habe, da habe ich gedacht: wir Menschen sind manchmal gar nicht anders als die Elefanten da im Zoo. Obwohl wir ja sehr gut nachdenken können.

Wir regen uns nicht über die langen Ohren auf, aber über andere Sachen, die genauso unwichtig sind:
ob ein Kind eine andere Hautfarbe hat, oder
ob es nicht richtig deutsch sprechen kann.

Vielleicht denkst du jetzt: wir machen so etwas nicht, wir machen da nicht mit, oder? Wenn jemand ein anderes Kind beleidigt oder ärgert, oder vielleicht nur einfach nie mitspielen lässt?

So was würden wir doch nicht tun!

Aber eigentlich ist es auch genauso schlimm, wenn man dabei zuguckt und das einfach zulässt.

Wenn man sich lieber selbst auch nicht um das Kind kümmert, das die anderen nicht mögen. Sonst könnte es ja passieren, dass die anderen Dich selbst auch nicht mehr mögen, oder?

Aber weißt du, das ist nicht das, was Jesus gemacht hat. Jesus ist gerade zu den Leuten hingegangen, denen es nicht gut ging. Und zu denen, die die anderen Leute nicht leiden mochten. Für Jesus waren alle Menschen gleich wichtig, er hat keine Unterschiede gemacht.

Wisst ihr, was Jesus gesagt hat?

Er hat gesagt:
habt die anderen genau so lieb, wie ihr auch euch selbst lieb habt.

Das ist oft gar nicht so einfach. Und manchmal muss man sogar ein bisschen mutig sein. Und man muss selber nachdenken, was man lieber machen möchte: jemand anderem wehtun, oder ihn lieb haben, wie Jesus gesagt hat.

Aber wir können alle selber denken, oder?

Wenn wir damit anfangen, nicht mehr zu hassen, dann können wir vielleicht andere anstecken damit, und die stecken andere an, und die ... und so geht es immer wieter.

Stellt euch das mal vor: so schlimme Dinge wie gestern in Amerika könnten dann gar nicht passieren. Weil niemand sagt: ich bin mehr wert als du.

(geschrieben am 12.09.01)

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