Jesus kommt zu Großmutter Anna

Martina Klusmeier

Großmutter Anna war eine fromme Frau. Sie ging jeden Sonntag zur Kirche. Sie gab regelmäßig alte Kleider für die Sammlungen. Zwei Mal im Jahr gab sie auch einen 10,- DM Schein für die Diakoniesammlung. Darüber dachte sie nicht weiter nach. So war es schon recht, alle anderen machten es ebenso.

Eines Nachts im Dezember hatte Großmutter Anna einen Traum. Es war ein merkwürdiger Traum, anders als alle, die man sonst nachts so träumt. Eine Stimme hörte Großmutter Anna, und diese Stimme sagte zu ihr: "Großmutter Anna, mache Dich bereit. An Weihnachten will Jesus selbst bei dir zu Besuch sein."

Als sie erwachte, waren diese Worte noch deutlich in ihrem Kopf. Und sie vergaß sie auch nicht, nachdem sie aufgestanden war, ihren Kaffee gekocht hatte, und schließlich am Frühstückstisch saß. - Sonst vergaß sie ihre Träume immer sehr schnell.

"Das war sicher kein gewöhnlicher Traum", dachte Großmutter Anna. "Vielleicht war es Gottes Stimme, die ich gehört habe. Ja, ganz sicher war es die Stimme Gottes."

Den ganzen Tag grübelte sie, was die Worte zu bedeuten hatten. Jesus selbst wollte zu ihr kommen; und vorbereiten sollte sie sich. Wie bereitete man sich auf den Besuch von Jesus vor? Und wieso wollte Jesus gerade sie besuchen?

Am Abend hatte sie ihren Entschluss gefasst: Jesus wollte sie besuchen, weil sie ein wirklich frommer Mensch war. Nun, und vorbereiten sollte sie sich sicherlich, indem sie endlich mal wieder in der Bibel las. Ja, und schön machen wollte sie es dem Herrn Jesus.

***

Großmutter Anna meinte es wirklich gut: Sie putzte die Wohnung, räumte wieder einmal gründlich auf, suchte die hübschesten Häkeldeckchen heraus und machte alles fein gemütlich. Sie hatte viel Zeit zu tun damit. Dabei vergaß sie dann auch die jährliche Kleider-Sammelaktion zu Weihnachten, aber das war nicht schlimm. Im Sommer war wieder eine Sammlung, da konnte sie immer noch ihre alten Sachen abgeben. Erst mal jetzt der Besuch des Gottessohnes.

Abends, wenn sie ziemlich erschöpft war von der ganzen Herumräumerei, holte sie ihre Bibel aus der Ecke. Ein bisschen verstaubt war sie gewesen, ihre schöne alte Bibel, und Großmutter Anna hatte ein klein wenig ein schlechtes Gewissen gehabt. Aber nun war es ja wieder in Ordnung. Sie würde sich gut vorbereiten auf Jesu' Besuch. Jeden Abend las sie ein, zwei Kapitel, und sie staunte, was sie alles vergessen hatte von den schönen Jesusgeschichten ihrer Jugend. Aber nun las sie sie ja alle wieder.

***

Der Heiligabend nahte, und alles war vorbereitet. Großmutter Anna hatte ziemlich weiche Knie, wenn sie an das bevorstehende Ereignis dachte. Je weiter der Vormittag fortschritt, desto nervöser wurde sie. Hatte sie wirklich an alles gedacht? - Vorsichtshalber putzte sie noch einmal das Holzkreuz über der Wohnzimmertür. Würde sie antworten können, wenn Jesus sie nach Stellen in der Bibel fragte? Großmutter Anna war nervös wie ein junges Mädchen vor der letzten Schulprüfung.

Schließlich war es Abend, und erwartungsvoll setzte sie sich an den warmen Kamin, ihre mittlerweile wieder liebgewonnene Bibel neben sich.

Da - die Haustürklingel! Großmutter Anna sprang auf und lief, um zu öffnen.

Aber wie groß war ihre Enttäuschung, als es nur die Nachbarin war.

"Guten Abend, Großmutter Anna. Ich dachte nur, ich frage, ob Sie vielleicht ein wenig den Heiligen Abend mit einer Tasse Tee mit mir verbringen möchten. Wir wären beide nicht so allein." sagte sie.

Großmutter Anna zögerte nur kurz: allein war sie sowieso nicht, ihre Kinder und Enkel würden am 1. Weihnachtstag kommen, und außerdem ...

"Es tut mir leid, Lina. Ich erwarte wichtigen Besuch. Ich habe heute wirklich überhaupt keine Zeit."

Kurze Zeit später klingelte es wieder. Diesmal war es eine fremde junge Frau. Sie sah ziemlich verfroren aus. "Entschuldigen Sie vielmals. Mein Auto ist auf der Straße liegengeblieben. Darf ich bitte von Ihnen aus telefonieren?"

Großmutter Anna verdrehte kurz die Augen, aber sie konnte ja wohl schlecht "nein" sagen. "Beeilen Sie sich aber bitte!" sagte sie deshalb nur. "Ich erwarte jeden Augenblick wichtigen Besuch!"

Die junge Frau nickte schüchtern. Schnell rief sie in der Werkstatt an, und noch schneller war sie wieder gegangen. Großmutter Anna hatte einen Moment lang ein schlechtes Gewissen: es war so kalt draußen, hoffentlich fror die junge Frau nicht. - Aber sie konnte sich nicht darum kümmern! Hinterher kam Jesus, während sie mit einer fremden Frau herumstand, die sie überhaupt nichts anging! Nein, das ging nicht.

Noch einmal die Türklingel. Nun aber ...

Du liebes Lottchen! Das war doch der Bahnhofs-Emil. Natürlich, an den Feiertagen strich der immer um die Häuser und bettelte. Weil die Leute da freigiebiger waren. Der fehlte ihr gerade noch. Großmutter Anna war langsam ärgerlich: "Mach, dass du weiterkommst!" fauchte sie den Landstreicher an.

Nun konnte er aber langsam kommen, der Herr Jesus.

Statt dessen klingelte das Telefon. Die junge Frau war dran. Manchmal, wenn sie viel Zeit hatte und ihre eigenen Enkel, die weit entfernt wohnten, ihr so fehlten, dann kümmerte Großmutter Anna sich ein wenig um die vielen Kinder, die die junge Frau alleine durchbringen musste. Sie fand auch gar nichts dabei. Aber heute, am Heiligabend, anzurufen! "Einen schönen Heiligabend wünsche ich euch, Großmutter Anna. Die Kinder würden euch gern ein kleines Geschenk vorbeibringen. Darf ich sie euch schicken?"

"Also, um ehrlich zu sein ... es passt mir jetzt gar nicht gut ... die Kinderchen verstehen sicher ... morgen Vormittag vielleicht?"

*

Dann saß sie wieder in ihrem Sessel und wartete. Wartete auf den Herrn Jesus. Der frühe Abend verstrich und es wurde später. Noch immer wartete Großmutter Anna. Die Enttäuschung machte sich in ihr breit wie ein dichtes dunkles Tuch.

Irgendwann musste sie eingeschlafen sein. Und dann kam wieder der Traum. Ein merkwürdiger Traum, anders als alle, die man sonst nachts so träumt. Und wieder hörte sie eine Stimme. Ein wenig traurig klang die Stimme: "Großmutter Anna. was hast du denn nur gemacht? Ich wollte dich so gern besuchen kommen. Aber doch nicht, weil du die Wohnung aufgeräumt hast. Und auch nicht, weil du die Geschichten der Bibel jetzt wieder kennst und mir sagen kannst, wo sie stehen. Großmutter Anna: es reicht nicht, die Bibel nur zu kennen. Für dein eigenes Leben sind sie wichtig, die Geschichten in der Bibel. Warum merkst du denn nicht, was die Geschichten dir erzählen wollen? - Mehrmals heute habe ich versucht, zu dir zu kommen, aber du hast mich nicht eingelassen."

So sagte die Stimme, und senkrecht saß die Großmutter Anna in ihrem Stuhl. Hellwach war sie jetzt. Und dann verstand sie plötzlich!

Die Großmutter Anna griff zum Telefon. Die junge Frau mit den Kindern lud sie ein -"ja, jetzt sofort" - die Nachbarin, die so allein war wie sie und ihre Einsamkeit hatte teilen wollen; die älteren Kinder sammelten den Bahnhofs-Emil auf der Straße ein und brachten gleich noch die durchgefrorene junge Frau mit, die allein als einziger Gast im Wirtshaus gegenüber gesessen hatte.

So eng war es noch nie bei Großmutter Anna gewesen, so viele Menschen auf einmal, und mittendrin der Bahnhofs-Emil, der nicht besonders gut roch, aber überglücklich war und ein um das andere Mal sagte: "Nein, wie schön. Wie schön."

Und dasselbe flüstere auch die Großmutter Anna abends im Halbschlaf, in ihrem Bett.

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