Jette findet das Christkind

Martina Klusmeier

Drei Tage vor Weihnachten entschied Jette, dass sie Heiligabend Besuch vom Christkind haben wollte. Dafür war einiges vorzubereiten. Natürlich musste man brav gewesen sein, wenn das Christkind kommen sollte. Jette überlegte gründlich: na ja, brav ... wahrscheinlich reichte es auch, wenn man nicht völlig "unbrav" gewesen war. Ganz brav, wer konnte das schon? Und im Großen und Ganzen ging es doch mit ihr, fand sie.

Gut, das war geklärt. Dann war da noch Mamas Aufforderung, das Zimmer endlich aufzuräumen. Eigentlich war es wahrscheinlich schon Aufforderung Nr. 1398; und dem Christkind würde ein aufgeräumtes Zimmer sicher auch besser gefallen - und unter dem Motto "brav" konnte man das auch noch unterbringen. Also dann ... . Jette verbrachte einen ganzen Nachmittag damit, alles wegzuräumen. - Na gut, sie nahm es nicht ganz so genau. Unter dem Bett war soo viel Platz, und hinter dem kleinen Schrank auch. Hauptsache, es sah aufgeräumt aus.

Fein. Was war noch zu tun? Natürlich, das Zimmer musste geschmückt sein. Hatte sie etwas zum Schmücken? Nein, eigentlich nicht. Als sie im Kinderhort Weihnachtsbasteleien gemacht hatten, hatte sie einen Wutanfall bekommen und nicht mitgemacht. Dumm gelaufen. Was klaute der Jannis ihr auch die Schere. - Jette wusste Rat. Schließlich hatte Mama mit Robert ganz viele Sachen gebastelt. Ganz, ganz viele. Es würde nicht auffallen, wenn ein paar davon fehlten. Jette schmückte ihr Zimmer und fand, dass es nun wirklich schön aussah. Nur, nun musste sie aufpassen, dass Robert nicht hereinkam und seine Basteleien sah!

Jetzt konnte das Christkind kommen!

****

Heiligabend kam, und alles ging schief! - Es fing damit an, dass Jette und Robert von Mama zum Spielen nach draußen geschickt wurden. Mama wollte die Wohnung saubermachen und wünschte, dass die beiden Kinder ihr nicht unter den Füßen herumstanden. Das war nicht weiter schlimm. Es war schön draußen, und auf dem Acker neben dem Haus ließ sich wunderbar toben. Jette und Robert spielten "space boys", und natürlich mussten die Erdenbürger und die Außerirdischen einen Krieg führen, und natürlich musste man sich auf den Boden schmeißen, um nicht getroffen zu werden ...

Als Mama die Kinder zum Mittagessen rief, traute sie ihren Augen kaum: die Treppe hinauf führten breite Fußspuren, und zwei echte Erdferkel standen vor ihr.

Sprachlos starrte die Mutter ihre beiden an.

Robert heulte auf: "Die Jette war's!" - schon mal vorsorglich, bevor die Mutter überhaupt reagieren konnte. "Stimmt überhaupt nicht. Und überhaupt hast du uns rausgeschickt, du wolltest es ja so. Du Rabenmutter!" wehrte Jette sich sofort. -

Es gab ein erstklassiges Donnerwetter.

Den Nachmittag mussten die beiden Kinder auf ihren Zimmern verbringen. Na ja, das war nicht schlimm, wenigstens kam der kleine Bruder ihr so nicht in die Quere. Jette las ein bisschen, zwischendurch grummelte sie ein bisschen auf die Mutter, und dann war der Nachmittag auch schon rum.

Um ½ 4 Uhr schickte Mama sie zum Familiengottesdienst. Sie schien sich wieder etwas beruhigt zu haben, Kunststück, das Treppenhaus war ja auch wieder sauber.

"Ich will gar nicht zum Krippenspiel!" quengelte Robert unterwegs. "Die Großen drängeln sich vor, und ich kann ja doch nichts sehen."

"Dein Problem!" Jette hatte auch keine Lust, aber das hatte andere Gründe. Die blöde Nicole aus der Kindergruppe, die ihr die Rolle der Maria weggeschnappt hatte. Und etwas anderes als Maria wollte sie nicht spielen. Also nahm sie am Krippenspiel gar nicht teil. Und das wurmte sie gewaltig.

Jette war wirklich wütend, und deshalb stellte sie Nicole blitzschnell ein Bein, als sie an ihr vorbei in die Kirche ging. Nicole machte einen kunstgerechten Abflug und landete mit ordentlichem Rumms auf dem Holzboden der Kirche.

Ein paar Kinder kicherten verstohlen, aber die Erwachsenen fanden das gar nicht lustig. Pastorin Muntermacher kam mit rotem Gesicht herbeigefegt und machte Jette ordentlich zur Minna. "So", schimpfte sie abschließend, "und zur Strafe darfst Du heute das Krippenspiel nicht sehen."

Jettes Laune wurde dadurch nicht unbedingt besser. Auch nicht, als Robert sich solidarisch erklärte und mit ihr die Kirche verließ.

So eine Pleite! Beim Krippenspiel rausgeflogen! Was nun? Einfach wieder nach Hause gehen ging nicht. Noch ein Donnerwetter von Mama musste man nicht unbedingt haben.

Missmutig stapften die beiden Kinder durch die Stadt.

"Wollen wir nicht doch nach Hause?" fragte Robert nach einer Weile vorsichtig. Ihm kam die Zeit schon sehr lange vor, die Kirche war doch bestimmt schon aus.

"Quatsch!" fauchte Jette ihn an. "Wenn die Kirche aus ist, läuten die Glocken, das hören wir, und dann gehen wir nach Hause. Alles klar?"

Der Kleine nickte ergeben. Mit großen Schwestern zu streiten, wenn die sauer waren, hatte sowieso keinen Zweck.

Inzwischen hatte es angefangen zu schneien, und es hätte richtig Weihnachtsstimmung aufkommen können, wenn da nicht ... ja, wenn da nicht das schlechte Gewissen gewesen wäre. Die Sache mit Nicole, na ja, die hatte es verdient, die dumme Kuh, was drängelte die sich auch überall in den Vordergrund. Die Pastorin hatte ja gar keine Ahnung ... aber die Sache mit Mama. Mama anlügen, das war schon eine andere Sache. Jette dachte gründlich darüber nach. Wie würden Mama und Papa reagieren, wenn sie die Wahrheit erzählten? Voll ausrasten würden die. Weihnachten wäre im Eimer. Und für Mama und Papa auch. - Nein, es wear doch viel besser für die Eltern, wenn sie es nicht wussten. Viel besser. - so beruhigte Jette ihr schlechtes Gewissen.

"Und wehe, du sagst auch nur einen Piep über den Rausschmiss!" fuhr sie Robert vorsichtshalber noch einmal an, als sie schließlich wieder vor der Haustür standen. Robert nickte nur. Da waren sie sich einig. Bloß nichts verraten und die Bescherung verderben!

"Du liebes Bisschen. Ihr seid ja ganz verfroren. Schnell rein mit euch." empfing sie die Mutter.

"Die Kirche war nicht geheizt", sagte Jette schnell.

"Das ist ja unglaublich. Da muss ich aber mal mit Pastorin Muntermacher sprechen." Mama half ihnen schnell aus den nassen Sachen. "Übrigens, wegen heute Morgen", sagte sie, als sie Roberts Schnürsenkel enttüddelte, "das tut mir leid. Ich hätte euch nicht so anschreien sollen. Ich war auch genervt von dem vielen Putzen. Schwamm drüber?"

Jette und Robert nickten, und Jette spürte einen dicken Kloß im Hals.

Schnell liefen die Kinder nach oben, um ihre Geschenke für die Eltern zu holen. Jette griff nach den Päckchen, da fiel ihr Blick wieder auf die geschmückten Fenster: plötzlich hatte sie keine rechte Freude mehr daran. Ob das Christkind den Schmuck wirklich so schön finden würde, schließlich hatte sie ihn geklaut. Und Nicole hatte sie getreten. Und die Mutter angelogen. Mama hatte sich sogar bei ihnen entschuldigt, und sie hatte sie angelogen. Und gleich zwei Mal. Und wenn Mama wirklich zur Pastorin ging , und Frau Pastorin würde ihr erzählen, wie es wirklich gewesen war ...

Niedergeschlagen trottete Jette hinter ihrem Bruder die Treppe hinunter - wenigstens hatte Robert nicht in ihr Zimmer geschaut.

Mama und Papa warteten vor der Wohnzimmertür auf die beiden Kinder. "Und?" fragte Papa und grinste verschmitzt, "was meinst ihr, war das Christkind wohl da?"

"Klar!" sagte Robert mit voller Überzeugung.

"Mmm..." machte Jette.

Fast ein wenig ängstlich betraten sie den Raum, der die letzten drei Tage für sie verschlossen gewesen war. Die Lichter am Weihnachtsbaum brannten, auf dem Tisch standen Schalen mit Obst und Süßigkeiten, und unter dem Tannenbaum lagen die verpackten Geschenke.

"Es war da. Es war da!" jubelte Robert.

Jette sagte gar nichts.

Das Weihnachtslied, das sie alle zusammen wie jedes Jahr ‚für das Christkind' sangen, kam ihr ziemlich kratzig über die Lippen.

Dann ging es an' s Geschenke verteilen.

Und während sie die verführerischen bunten Pakete auspackten, fragte Mama plötzlich: "Wie war es denn beim Krippenspiel?"

Robert öffnete den Mund, und Jette bekam sofort einen heftigen Hustenanfall und schubste den kleinen Bruder in die Seite: "Schön!" sagte sie dann. "Schön war das."

"Na siehst du", freute Mama sich, "und da hast du doch erst so geschimpft, das ein anderes Mädchen die Rolle der Maria bekommen hat."

"Mmmmh ..." murmelte Jette.

Später nahm Mama sie auf den Schoß, zog sie an sich und sagte: "Bist doch mein bestes Mädchen!"

Und da war es mit Jettes Fassung vorbei. Jette heulte los.

Und dann erzählte sie alles: die Spielsachen unter dem Bett, die weggenommenen Bastelsachen, die Lüge mit der Kirche, und dass sie der Nicole ein Bein gestellt hatte; die Lüge mit der Heizung ...

"Hast du mich jetzt nicht mehr lieb?" schluchzte sie nach beendeter Beichte. "Wirfst du mich jetzt raus?" ...

"Ach, mein Mädchen ...", sagte Mama leise. Mehr nicht.
Und als Jette hochschaute, sah sie, dass Mama auch weinte.
Dann nahm sie Jette ganz fest in den Arm. "Natürlich werfe ich dich nicht raus", sagte sie. "Ich habe dich doch lieb, Jette. Und ich habe doch dein Zimmer schon lange gesehen, und die Bastelsachen. Robert hat so viele davon, er hätte dir sicher einige geschenkt. Ich war ganz schön traurig, dass du mich anlügst. Aber jetzt bin ich froh, dass du gekommen bist und mir alles gesagt hast."

Mama machte eine lange Pause: "Das mit der Kirche, das war wirklich schlimm, Das darfst du nie wieder tun, hörst du, dass du einfach fortläufst", sagte sie dann, "versprichst du mir das?"

Jette nickte und musste dann gleich noch einmal losweinen, aber nur, weil sie so glücklich war. "Ich hab dich ganz doll lieb!" sagte sie.

****

Aber Jette hatte doch noch etwas auf dem Herzen.

Als sie abends im Bett lag und Mama noch einmal zu ihr kam, druckste sie ein bisschen herum und fragte dann schließlich: "Mama, sag mal ... aber das Christkind, das hat mich jetzt sicher nicht mehr lieb, oder? Das Christkind hat mich nicht so lieb wie du und Papa?"

"Wie kommst du denn darauf?" fragte Mama erstaunt.

"Ach, ich hatte das Christkind eingeladen, und nun habe ich doch aber das Christkind auch belogen mit dem Aufräumen und überhaupt soll man doch überhaupt nicht lügen ... - und es ist ja auch nicht gekommen!"

"Uff, Jette ...", sagte Mama und musste erst mal nachdenken ...

"Ja, Jette, weißt du", sagte sie dann, "eigentlich ist es mit dem Christkind ja so ... jedes Jahr zu Weihnachten feiern wir den Geburtstag von Jesus, das weißt du ja"

"Klaro", sagte Jette.

"Aber du weißt doch auch, dass Jesus nicht jedes Jahr wieder neu ein kleines Jesuskind sein kann?" fuhr Mama fort.

Darüber hatte Jette noch nie nachgedacht. Aber jetzt, wo Mama es sagte, schien es ihr einleuchtend.

"Wie alt ist Jesus denn inzwischen?" fragte sie und vergaß ihre erste Frage nach dem Christkind.

"So ungefähr 2000 Jahre."

"2000 Jahre !?!?" hauchte Jette überwältigt. "Ist der aber alt!"

"Ouch ... Jette", stöhnte Mama, "hast du denn alle die Jesusgeschichten vergessen, die du schon kennst?"

Jette dachte angestrengt nach: "da, wo Jesus die Kinder lieb hat", überlegt sie, "und da, wo er so Einen gesund macht und so; und Wunder hat Jesus auch gemacht, und Ostern ist er wieder aufgestanden und ... und ... wovon ist er aufgestanden?"

"Auferstanden", verbesserte Mama und grinste dabei wie ein Lebkuchenpferd, "auferstanden heißt, dass man bei Gott ist. Jesus ist gestorben, weißt du noch, und Ostern ist er wieder auferstanden. Nun wohnt er schon seit vielen, vielen, vielen Jahren bei Gott. Er wohnt nicht mehr hier auf der Erde zwischen uns Menschen. Aber er sieht uns alle und hat uns Menschen sehr lieb, weißt du. Und wenn du irgendetwas ganz Dummes oder schrecklich Falsches tust, so wie du heute, und es tut dir leid, dann ist er überhaupt nicht böse. Er ist bestimmt genauso froh darüber wie Papa und ich, dass du die Wahrheit gesagt hast, und ganz bestimmt hat er dich lieb."

Das hörte Jette gern. Und weil es ihr davon auch gleich schon wieder besser ging, sagte sie gönnerhaft: "Na ja, wenn du es sagst. Dann wird wohl was dran sein."

"Klaro!" sagte Mama und drückte ihr noch einen Kuss auf die Nasenspitze: "Schlaf gut, Kurze".

Im Einschlafen fiel Jette noch ein, dass die Frage mit dem Christkind damit ja eigentlich immer noch gar nicht so richtig geklärt war. Aber eigentlich war es ja auch egal ... Hauptsache, Jesus hatte sie lieb ... und schnarch.

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