Johanna und der Besuch vom Christkind

Martina Klusmeier

"Weihnachten kommt das Christkind", hatte Oma Meier gesagt. Und dann hatte sie Johanna eine Menge über das Christkind erzählt. "Es hat goldene Löckchen, und es ist lieb und will allen Menschen Gutes tun. Einmal im Jahr kommt das Christkind auf die Erde. Zu besonders lieben Kindern kommt es auf Besuch. Wenn du wirklich artig bist und dich auf das Christkind freust, kommt es bestimmt auch zu dir."

Sicher hat sie es gut gemeint, die Oma Meier. Wo doch die Kinder heutzutage gar nicht mehr richtig vom Christkind erfuhren, in der Schule, und bei den Eltern. Bei den Eltern schon gar nicht.

*

Ja, so hatte sie es gesagt. Aber zu Hause, als Johanna davon erzählte, fasste Mama sich bloß an den Kopf: "Dieser Unsinn Jahr für Jahr. Man müsste den alten Leuten wirklich mal klar machen, dass es so nicht geht. Den Kindern Blödsinn in den Kopf setzen. Nun hör zu, Johanna, das Christkind gibt es nicht, und damit Punkt. Alles klar?"

Johanna nickte. Wenn die Mutter es sagte. So ganz vorstellen konnte sie sich das ohnehin nicht, mit dem Christkind. Wo trieb es sich denn den ganzen Rest des Jahres herum? Im Himmel? Aber wie konnte es dann an Weihnachten plötzlich herunter? Und dann sollte es bei allen lieben Kindern gleichzeitig sein! Das Christkind musste ja schneller sein als Michael Schuhmacher, wenn es das hinbekommen wollte.

Aber trotzdem ...

* * *

Weihnachten kam näher, und in der Schule wurde das Thema "Christkind" auch ausgepackt. In der Religionsstunde hörten sie die Geschichte von Jesus, dem Sohn Gottes, der zu Weihnachten auf die Erde gekommen war. "Mit dem Christkind hat das aber nichts zu tun", erklärte die Lehrerin, "das haben sich die Menschen mal so ausgedacht, damit sie etwas haben, für die Weihnachtszeit. Mit dem Sohn Gottes hat das Christkind nicht das Geringste zu tun."

In den Pausen wurde darüber heiß diskutiert. "Glaubst du etwa noch an das Christkind??" fragten die Kinder sich untereinander. Von "Keinen blassen Schimmer!" über "Aber klar doch, die Erwachsenen haben von so etwas doch nun wirklich keine Ahnung!!" bis hin zu "Jesus ist das Christkind, und der kommt jedes Jahr wieder", gab es die unterschiedlichsten Meinungen. "Alles Blödsinn. Kannste vergessen. Diesen Jesus-Kram gibt es doch auch nicht!" behauptete Sebastian sogar.

Also, so weit wollte Johanna denn doch nicht gehen. Bestimmt gab es Jesus. Aber diese Geschichte vom goldlockigen Christkind ...

* * *

Am Ende der Straße, in der Johanna wohnte, dort, wo es in den Wald hineinging, stand ein altes Haus. Es war schon ganz zugewachsen, keiner kümmerte sich darum, im Sommer den Rasen zu mähen, oder die Blumen zu schneiden, die wild dort wuchsen. Auch die Gardinen wurden wohl selten gewaschen, und Blumen vor den Fenstern, wie in den anderen Häusern, gab es auch keine.

Die "alte Hänneke" wohnte in dem Haus. Ob das ihr Name war, wusste Johanna nicht. Alle nannten sie so. Im Sommer stand die alte Hänneke oft draußen an der Straße, sie schien nichts anderes zu tun zu haben. Sie sprach alle Leute an, die vorbei kamen, und unterhielt sich mit ihnen. Die meisten blieben auf ein paar Worte stehen, aber sie hatten es eilig, man konnte doch nicht den ganzen Tag auf der Straße herum stehen. Und so war die alte Hänneke immer schnell wieder allein.

Jetzt, als der erste Schnee fiel, sahen Johanna und ihre Mutter sie auch draußen auf der Straße, als sie auf dem Weg zum Laternenfest waren. Aber sie stand nicht herum, sondern versuchte mit einem alten Besen den Schnee zu entfernen, der in großen weißen Flocken fiel.

"Was macht sie da?" wollte Johanna wissen. Sie war schon groß und wusste, dass es Schneeschieber gab und man den Schnee normalerweise nicht mit einem Besen wegbekam.

"Tja, die alte Hänneke", sagte Mutter. "Einen Schneeschieber wird sie wohl auch nicht haben. Hat ja auch kaum geschneit in den letzten Jahren."

"Warum hat sie keinen?"

"Sie hat nicht viel Geld, denke ich. Da muss sie jeden Pfennig zwei Mal umdrehen, und für die paar Mal, wo man einen Schneeschieber brauchen würde ..."

"Hat sie auch kein Geld, um das Haus schön zu machen?" fragte Johanna weiter.

"Wahrscheinlich nicht."

"Schade", sagte Johanna. Und während sie weiter an Mamas Hand durch den Schnee stapfte, den sie heute Morgen noch so schön gefunden hatte, fiel ihr ein, dass sie doch sogar zwei Schneeschieber hatten, Oma und Opa einen und Mama und Papa auch. Eigentlich konnte die alte Hänneke sich doch einen mal ausborgen.

*

Abends, als sie gemütlich in ihrem Bett lag und lange nicht mehr an die alte Hänneke dachte, hörte Johanna durch den offenen Spalt ihrer Zimmertür wie immer die leisen Gespräche ihrer Eltern, bei denen sie so schön einschlafen konnte. Als sie den Namen "alte Hänneke" hörte, wurde sie wieder munter, und ihre Idee vom Nachmittag fiel ihr wieder ein.

"Ein Schandfleck ist das", hörte sie ihre Mutter sagen. "Da müsste sich doch mal Jemand kümmern."

"Was willst du machen? Willst du ihr persönlich den Schnee schippen? Das ist wirklich nicht unsere Aufgabe", antwortete der Vater.

"Nein, sicher nicht. Dazu hätte ich gar nicht die Zeit." Johanna hörte die Mutter seufzen.

"Zustände sind das! Wenn die Kinder sich nicht kümmern, sollten sie die alte Frau wenigstens ins Altersheim geben. Da sind die alten Leute doch heutzutage gut versorgt." fügte der Vater noch hinzu, dann sprachen die Eltern über andere Sachen, und Johanna schlief bald ein.

* * *

An den nächsten Tagen schneite es nicht, und Johanna vergaß die Sache mit der alten Hänneke wieder.

Heiligabend kam, und Papa und Mama gingen mit Johanna zur Gemeinde. Die Kinder durften die Geschichte von der Geburt Jesu mitspielen, während der Pastor erzählte. Vorher und nachher sangen sie Lieder, und nach dem Lied kam der Pastor herunter zu den Kindern und setzte sich zu ihnen. "Wisst ihr", begann er, "und seit diese Geschichte vor ungefähr zweitausend Jahren passiert ist, erinnern sich die Menschen Jahr für Jahr an die Geburt Jesu, und die Kinder freuen sich zu Weihnachten auf das Christkind. Und dabei will ich euch etwas verraten: Jesus selbst hat das vielleicht gar nicht so gemeint, es geht ja nicht nur darum, dass man Geschenke bekommt, sondern auch darum, dass man schenkt. Und vielleicht kann jeder von uns für jemand Anderen ein Christkind sein heute, wo Weihnachten anfängt. Vielleicht auch an vielen anderen Tagen. - So, und nun lasst uns noch einen singen."

Nachdenklich trabte Johanna neben ihren Eltern nach Hause ... für jemand Anderen ein Christkind sein, komischer Gedanke. Wie sollte das denn gehen? Es gab doch nur ein Christkind, und überhaupt ... ... für jemand Anderen ein Christkind sein ...

Plötzlich hatte Johanna eine Idee: "Ich muss noch ganz schnell noch mal wo hin!" erklärte sie aufgeregt, als sie vor der Haustür standen.

"Jetzt??" Mamas Gesicht war ein großes Fragezeichen. "Aber wir wollen doch jetzt Bescherung feiern."

"Ja, ja, aber ich muss wirklich noch ganz schnell wo hin!" Johanna stürmte die Treppe hinauf, griff nach dem Obstkorb in der Küche und kam wieder heruntergestoben. "Nur ganz schnell!"

"Johanna ...", rief der Vater hinter ihr her, aber da war sie schon aus dem Tor.

"Sie will sicher noch Nadine Frohe Weihnachten wünschen", vermutete Mutter und seufzte, "so ist Johanna. Ihre beste Freundin muss doch immer alles mitbekommen, was Johanna macht."

Johannas Herz klopfte wie wild, als sie den Klingelknopf drückte - vom schnellen Laufen, aber auch vor Aufregung.

Es dauerte eine Weile, bis sie schlurfende Schritte hinter der Tür hörte.

"Frohe Weihnachten, alte Hänneke. Und schöne Grüße vom Christkind. Und ich möchte dich zu uns einladen, zum Weihnachten feiern", sprudelte sie heraus.

Sprachlos starrte die alte Frau sie an ... "Wirklich?" stammelte sie dann überwältigt, "wirklich, Johanna? Ich darf mit euch zusammen sein heute Abend? Das ist ... das ist wirklich ... du bist ja selbst ein richtiges kleines Christkind, kleines Mädchen. Warte einen Moment, da will ich doch ... ein Geschenk brauche ich ... warte ... "

Johannas Eltern klappten die Kinnladen herunter, als sie ihre Tochter mit der alten Hänneke zusammen den Gehweg herunterkommen sahen. Aber als die alte Frau sich überschwänglich bei ihnen für die Einladung bedankte und beinahe weinte vor Freude, da konnten sie ja schlecht nein sagen, nicht wahr?

Und so kam es, dass sie alle gemeinsam einen ganz besonderen Heiligen Abend miteinander verbrachten, die Kekse verputzten, die die alte Hänneke mitgebracht hatten, und Geschichten hörten von Weihnachten, wie es früher einmal gewesen war. Und erzählen konnte die alte Hänneke, das es gar nicht langweilig wurde, zuzuhören.

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